Das Thema Leitlinien (LL) scheint präsent wie nie in der Physiotherapie zu sein. Mitunter liegt dies wahrscheinlich an den verstärkten Bemühungen einiger Berufsverbände, an AWMF-Leitlinien mitzuarbeiten.
Zum Vergleich: In den Jahren zwischen 2006 und 2009 war Physio Deutschland an insgesamt zwölf Leitlinien beteiligt. Allein im Jahr 2020 beteiligte sich der Verband an ganzen zehn Leitlinien, ein Jahr zuvor sogar an 15 Leitlinien.
„Die AWMF berät über grundsätzliche und fachübergreifende Angelegenheiten und Aufgaben, erarbeitet Empfehlungen und Resolutionen und vertritt diese gegenüber den damit befassten Institutionen, insbesondere auch im politischen Raum. Neben den - angesichts der zunehmenden Spezialisierung immer dringenderen - Aufgaben der inneren Zusammenarbeit will sie damit die Interessen der medizinischen Wissenschaft verstärkt nach außen zur Geltung bringen.“
Seit 1995 koordiniert die AWMF die Ausarbeitung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie durch die einzelnen Fachgesellschaften und publiziert diese in ihrer Internetdatenbank. Finanziert wird die AWMF fast ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge und Spendengelder. Einteilung der Leitlinien
Leitlinien werden in vier verschiedene Qualitätsstufen von eher niedriger methodischer Qualität (S1) bis zu sehr hoher Qualität (S3) eingeteilt (Das „S“ steht dabei für das Ausmaß der angewandten Systematik im Entwicklungsprozess einer Leitlinie.):
• S1
Handlungsempfehlungen von Expertengruppen. Eine Expertengruppe erarbeitet einen informellen Konsens. Im Grunde genommen stellt eine S1-Leitlinie also eine „Expertenmeinung“ dar. Eine sorgfältige Überprüfung der Evidenz findet nicht statt, oder es ist schlichtweg zu wenig Evidenz für das jeweilige Krankheitsbild vorhanden, um klare Aussagen zu schaffen.
• S2k (k = konsensbasiert)
Eine S2k-Leitlinie ist, einfach gesagt, eine qualitativ hochwertigere S1-Leitlinie. Auch hier setzen sich Experten zusammen, um konsensbasiert Behandlungs- bzw. Diagnostikempfehlungen auszuarbeiten. Die S2k-Leitlinien gehen dabei methodisch definierter vor. Die Moderation findet neutral statt, es finden klare „Konsensusverfahren“ statt, beispielsweise das Delphi‑Verfahren. Zusätzlich wird die Konsensstärke ermittelt, also vermerkt, wie viele Experten das jeweilige Verfahren unterstützen, sich enthalten oder dagegen sind. Eine systematische Beurteilung der Evidenz findet nicht statt.
• S2e (e = evidenzbasiert)
In dieser Stufe kommt das erste Mal eine systematische Recherche nach wissenschaftlicher Literatur zum Tragen. Fachgruppen ermitteln zunächst die Ansichten und Präferenzen von betroffenen PatientInnen. Anschließend wird eine systematische Literaturrecherche durchgeführt und deren Ergebnisse bewertet. Die Ergebnisse werden rein objektiv zusammengetragen und dargestellt. •S3
Kurz gesagt vereint eine S3-Leitlinie die Kriterien beider S2-Leitlinien. Der Ausarbeitung der Leitlinie liegt wie in der S2e-Leitlinie eine systematische Übersichtsarbeit zu Grunde. Wie in einer S2k-Leitllinie werden zusätzlich unter neutraler Moderation und festgelegten Konsensustechniken Empfehlungsgrade und die Konsensstärke festgelegt und beschrieben. Damit stellt die S3-Leitlinie die qualitativ hochwertigste, damit aber auch seltenste Form einer Leitlinie dar.
Empfehlungsgrade
In Deutschland haben sich gewisse Formulierungen in den Leitlinien etabliert. So werden die Empfehlungsgrade in den meisten Fällen mit den Buchstaben A, B und C benannt:
A) steht für: „soll gemacht werden“ beziehungsweise „soll nicht gemacht werden“. Die Evidenzlage ist gut und beispielsweise mit einer randomisiert kontrollierten Studie belegt worden.
B) steht für: „sollte gemacht werden“ beziehungsweise „sollte nicht gemacht werden“, was in den meisten Fällen bedeutet, dass zwar Studien existieren, deren Qualität allerdings moderat ausfällt.
C) steht für: „kann gemacht werden“. Dies ist oft der Fall, wenn keine Evidenz zur Verfügung steht und die Empfehlungen auf Expertenmeinungen beruhen.
Bedeutung der Leitlinien
Leitlinien stellen in Deutschland, im Gegensatz zu Richtlinien, keine Rechtsnorm dar. In Deutschland gilt die „Therapiefreiheit“. Der Bundesgerichtshof entschied, dass „die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen para-ärztlicher Behandlungsformen rechtlich grundsätzlich erlaubt ist“. Dies gilt demnach auch für Heilmittelerbringer. Leitlinienorientiert zu arbeiten ist also freiwillig.
Befürworter von Leitlinien sehen darin eine Gefahr. Die Praxis zeige, dass ÄrztInnen und TherapeutInnen häufig veraltete, nicht mehr empfohlene Therapiemodalitäten anwenden. Dies könne nicht im Sinne der Patienten sein.
Gegner von Leitlinien argumentieren dagegen, dass die Therapiefreiheit zu einer höheren Behandlungsqualität in Deutschland führe, da individueller auf Patientenbedürfnisse eingegangen werden könne.
Leitlinien in der Praxis
Ob eine Orientierung an Leitlinien sinnvoll ist, müssen praktizierende Therapeuten selbst entscheiden. Ihr Vorteil liegt in ihrer Übersichtlichkeit. Wer nicht regelmäßig selbst Literaturrecherchen durchführen möchte, erhält durch Leitlinien zumindest einen Überblick über Diagnosemittel und therapeutische Herangehensweisen. Auch für die Patientenaufklärung können Leitlinien wertvoll sein. Insbesondere die „Soll“-, beziehungsweise die „Soll nicht“-Empfehlungen verdienen dabei besonderes Augenmerk.
Wichtig: Leitlinien sind keine festen Handlungsanweisungen! Sie stecken den Rahmen ab, in dem sich die Therapie bewegen kann. Ein Clinical Reasoning und ein individueller Therapieplan sind nach wie vor notwendig. Wer nach festen Behandlungsabläufen sucht, wird enttäuscht sein, wenn zum Beispiel in einer Leitlinie steht: „Trainingstherapie soll durchgeführt werden“.
Ein Problem von Leitlinien besteht in ihrer Trägheit. Bis eine Leitlinie verfasst wurde, können schon einmal zwei Jahre vergehen und bis diese Leitlinie dann wiederum irgendwann einmal überarbeitet wird, noch einige Zeit mehr. Zudem sind nicht immer alle Fachgruppen in der Ausarbeitung von Leitlinien vertreten. Insbesondere im deutschen „freiwilligen“ System ist zu erwarten, dass Fachgruppen versuchen ihre Interessen in die Leitlinien mit einfließen zu lassen. In vielen deutschen Leitlinien sind ausschließlich chirurgische Fachgruppen vertreten. Entsprechend fallen die Empfehlungen zu nichtoperativen Verfahren in diesen Fällen aus. Umso wichtiger ist es, dass die Physiotherapiewissenschaften in Deutschland etabliert werden.
Wissenschaftliche Erkenntnisse können so dazu führen, dass die „Best Practice“ von den Leitlinien abweicht. Physiotherapeuten müssen zusätzlich Mittel und Wege finden, auf dem Stand der Zeit zu bleiben. Zum Beispiel auch durch einen regelmäßigen Besuch auf diesem Informationsportal hier.
Inhaltlich wäre evtl. Leitplanken als Begriff besser wenn auch nicht besser klingend. Wir sollten schon so zumindest in eine Richtung herumeiernwink
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Hähnchen schrieb:
Inhaltlich wäre evtl. Leitplanken als Begriff besser wenn auch nicht besser klingend. Wir sollten schon so zumindest in eine Richtung herumeiernwink
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Zum Vergleich: In den Jahren zwischen 2006 und 2009 war Physio Deutschland an insgesamt zwölf Leitlinien beteiligt. Allein im Jahr 2020 beteiligte sich der Verband an ganzen zehn Leitlinien, ein Jahr zuvor sogar an 15 Leitlinien.
Zusätzliche Unterstützung für die physiotherapeutische Beteiligung an Leitlinien leistet die 2016 gegründete Deutsche Gesellschaft für Physiotherapie-Wissenschaften (DGPTW) mit einer eigenen „Sektion Leitlinien“.
Was ist die AWMF?
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. ist ein 1962 gegründeter Verein. Im Jahr 1975 wurde die Zielsetzung der AWMF folgendermaßen definiert:
„Die AWMF berät über grundsätzliche und fachübergreifende Angelegenheiten und Aufgaben, erarbeitet Empfehlungen und Resolutionen und vertritt diese gegenüber den damit befassten Institutionen, insbesondere auch im politischen Raum. Neben den - angesichts der zunehmenden Spezialisierung immer dringenderen - Aufgaben der inneren Zusammenarbeit will sie damit die Interessen der medizinischen Wissenschaft verstärkt nach außen zur Geltung bringen.“
Seit 1995 koordiniert die AWMF die Ausarbeitung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie durch die einzelnen Fachgesellschaften und publiziert diese in ihrer Internetdatenbank. Finanziert wird die AWMF fast ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge und Spendengelder.
Einteilung der Leitlinien
Leitlinien werden in vier verschiedene Qualitätsstufen von eher niedriger methodischer Qualität (S1) bis zu sehr hoher Qualität (S3) eingeteilt (Das „S“ steht dabei für das Ausmaß der angewandten Systematik im Entwicklungsprozess einer Leitlinie.):
- • S1
EmpfehlungsgradeHandlungsempfehlungen von Expertengruppen. Eine Expertengruppe erarbeitet einen informellen Konsens. Im Grunde genommen stellt eine S1-Leitlinie also eine „Expertenmeinung“ dar. Eine sorgfältige Überprüfung der Evidenz findet nicht statt, oder es ist schlichtweg zu wenig Evidenz für das jeweilige Krankheitsbild vorhanden, um klare Aussagen zu schaffen.
• S2k (k = konsensbasiert)
Eine S2k-Leitlinie ist, einfach gesagt, eine qualitativ hochwertigere S1-Leitlinie. Auch hier setzen sich Experten zusammen, um konsensbasiert Behandlungs- bzw. Diagnostikempfehlungen auszuarbeiten. Die S2k-Leitlinien gehen dabei methodisch definierter vor. Die Moderation findet neutral statt, es finden klare „Konsensusverfahren“ statt, beispielsweise das Delphi‑Verfahren. Zusätzlich wird die Konsensstärke ermittelt, also vermerkt, wie viele Experten das jeweilige Verfahren unterstützen, sich enthalten oder dagegen sind. Eine systematische Beurteilung der Evidenz findet nicht statt.
• S2e (e = evidenzbasiert)
In dieser Stufe kommt das erste Mal eine systematische Recherche nach wissenschaftlicher Literatur zum Tragen. Fachgruppen ermitteln zunächst die Ansichten und Präferenzen von betroffenen PatientInnen. Anschließend wird eine systematische Literaturrecherche durchgeführt und deren Ergebnisse bewertet. Die Ergebnisse werden rein objektiv zusammengetragen und dargestellt.
•S3
Kurz gesagt vereint eine S3-Leitlinie die Kriterien beider S2-Leitlinien. Der Ausarbeitung der Leitlinie liegt wie in der S2e-Leitlinie eine systematische Übersichtsarbeit zu Grunde. Wie in einer S2k-Leitllinie werden zusätzlich unter neutraler Moderation und festgelegten Konsensustechniken Empfehlungsgrade und die Konsensstärke festgelegt und beschrieben. Damit stellt die S3-Leitlinie die qualitativ hochwertigste, damit aber auch seltenste Form einer Leitlinie dar.
In Deutschland haben sich gewisse Formulierungen in den Leitlinien etabliert. So werden die Empfehlungsgrade in den meisten Fällen mit den Buchstaben A, B und C benannt:
Bedeutung der Leitlinien
Leitlinien stellen in Deutschland, im Gegensatz zu Richtlinien, keine Rechtsnorm dar. In Deutschland gilt die „Therapiefreiheit“. Der Bundesgerichtshof entschied, dass „die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen para-ärztlicher Behandlungsformen rechtlich grundsätzlich erlaubt ist“. Dies gilt demnach auch für Heilmittelerbringer. Leitlinienorientiert zu arbeiten ist also freiwillig.
Befürworter von Leitlinien sehen darin eine Gefahr. Die Praxis zeige, dass ÄrztInnen und TherapeutInnen häufig veraltete, nicht mehr empfohlene Therapiemodalitäten anwenden. Dies könne nicht im Sinne der Patienten sein.
Gegner von Leitlinien argumentieren dagegen, dass die Therapiefreiheit zu einer höheren Behandlungsqualität in Deutschland führe, da individueller auf Patientenbedürfnisse eingegangen werden könne.
Leitlinien in der Praxis
Ob eine Orientierung an Leitlinien sinnvoll ist, müssen praktizierende Therapeuten selbst entscheiden. Ihr Vorteil liegt in ihrer Übersichtlichkeit. Wer nicht regelmäßig selbst Literaturrecherchen durchführen möchte, erhält durch Leitlinien zumindest einen Überblick über Diagnosemittel und therapeutische Herangehensweisen. Auch für die Patientenaufklärung können Leitlinien wertvoll sein. Insbesondere die „Soll“-, beziehungsweise die „Soll nicht“-Empfehlungen verdienen dabei besonderes Augenmerk.
Wichtig: Leitlinien sind keine festen Handlungsanweisungen! Sie stecken den Rahmen ab, in dem sich die Therapie bewegen kann. Ein Clinical Reasoning und ein individueller Therapieplan sind nach wie vor notwendig. Wer nach festen Behandlungsabläufen sucht, wird enttäuscht sein, wenn zum Beispiel in einer Leitlinie steht: „Trainingstherapie soll durchgeführt werden“.
Ein Problem von Leitlinien besteht in ihrer Trägheit. Bis eine Leitlinie verfasst wurde, können schon einmal zwei Jahre vergehen und bis diese Leitlinie dann wiederum irgendwann einmal überarbeitet wird, noch einige Zeit mehr. Zudem sind nicht immer alle Fachgruppen in der Ausarbeitung von Leitlinien vertreten. Insbesondere im deutschen „freiwilligen“ System ist zu erwarten, dass Fachgruppen versuchen ihre Interessen in die Leitlinien mit einfließen zu lassen. In vielen deutschen Leitlinien sind ausschließlich chirurgische Fachgruppen vertreten. Entsprechend fallen die Empfehlungen zu nichtoperativen Verfahren in diesen Fällen aus. Umso wichtiger ist es, dass die Physiotherapiewissenschaften in Deutschland etabliert werden.
Wissenschaftliche Erkenntnisse können so dazu führen, dass die „Best Practice“ von den Leitlinien abweicht. Physiotherapeuten müssen zusätzlich Mittel und Wege finden, auf dem Stand der Zeit zu bleiben. Zum Beispiel auch durch einen regelmäßigen Besuch auf diesem Informationsportal hier.
Daniel Bombien / physio.de
LeitlinieBegriffsklärung
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AWMF: Aktuelle Leitlinien
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kroetzi schrieb:
Guckst du hier
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Daniel Bombien schrieb:
Wir bei physio.de versuchen natürlich, über die aktuell relevanten Leitlinien zu berichten
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kvet schrieb:
Was bringen Leitlinien, wenn man mit ihnen nicht in Kontakt kommt?
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Problem beschreiben
Hähnchen schrieb:
Inhaltlich wäre evtl. Leitplanken als Begriff besser wenn auch nicht besser klingend. Wir sollten schon so zumindest in eine Richtung herumeiernwink
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