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Umso größer die professionelle Wohlfühlatmosphäre in der Therapiepraxis wird, desto erschrockener wirken allerdings TherapeutInnen, wenn PatientInnen auf einmal ein Schimpfwort in der Therapie platzieren. Wie reagieren? Überspielen? Betreten Schweigen oder sogar den Patienten maßregeln? Der Kontrast zum professionellen Therapierahmen ist schwer zu ertragen. So sollte es aber nicht sein, denn Fluchen kann ein wertvoller Bestandteil der Therapie sein.
Die Wissenschaft des Fluchens
Zunächst einmal ist es interessant, sich die soziale Dimension des Fluchens bewusst zu machen. Übrigens ein wissenschaftliches Tabu, das erst 1973 aufgebrochen wurde. Da wurde nämlich die wissenschaftliche Disziplin der Malediktologie (vom lateinischen „maledicere“ für schimpfen) gegründet.
Werden Menschen gefragt, welchen Personengruppen sie eher das Fluchen zutrauen, stellt sich ein klares Bild heraus: Kriminelle, aber auch Arbeiter und Soldaten kommen den Leuten in den Sinn. Und natürlich fluchen Männer wesentlich mehr als Frauen – so der Glaube. Mit der Realität hat dies tatsächlich wenig zu tun. Geflucht wird in allen Gesellschaftsschichten, wenn auch tatsächlich häufiger bei Nicht-Akademikern. Und, Frauen fluchen Untersuchungen zufolge mindestens genauso viel wie Männer, die Gesellschaft toleriert es aber weniger. Daher war auch Dr. Richard Stephens recht perplex, als seine Frau während der Geburt seiner Tochter eine wahre Tirade an Schimpfwörtern von sich ließ. Das hatte er so von ihr noch nicht erlebt. Grund genug für den Psychologen eine Reihe von Experimenten zu beginnen, die den Einfluss des Fluchens auf Schmerz und die physische Leistungsfähigkeit untersuchten.
Von Körperteilen, Ausscheidungen und anderen Vulgaritäten
Die Ergebnisse von Stephens lassen sich kurz zusammenfassen: Wer flucht, kann länger seine Hand in Eiswasser halten und stärkere Kraftleistungen vollbringen. Am besten funktioniert hier übrigens das Wort, das uns als erstes in den Sinn kommt, wenn wir uns vorstellen mit dem Kopf gegen eine Wand zu schlagen.
Fluchen erhöht also unsere Toleranzschwelle und wirkt sogar „sozialem Schmerz“ entgegen: Wenn ProbandInnen an Situation von Ausgrenzung erinnert werden, zeigen sie in Experimenten eine geringere Schmerztoleranz. Durch kontinuierliches Fluchen kann dieser Effekt wieder revidiert werden.
Aufmerksame LeserInnen werden sich jetzt zurecht die Frage stellen, ob hier nicht ein Widerspruch zu erkennen ist: Kann häufiges Fluchen nicht auch zu Ausgrenzungen führen? Tatsächlich ja und das ist ein Problem: Robbins et. al. „belauschten“ in einem Experiment Frauen, die unter rheumatoider Arthritis oder Brustkrebs litten über ein ganzes Wochenende. Die Analyse zeigte eine Korrelation von depressiven Symptomen und der Häufigkeit der benutzten Schimpfworte der Patientinnen. Dabei fiel ein Faktor ins Gewicht: Die entdeckte Korrelation herrschte nur bei den Frauen, die im Beisein anderer häufig fluchten. Die Autoren vermuten, dass die Betroffenen durch dieses Verhalten weniger soziale Unterstützung erfuhren und deswegen mehr depressive Symptome aufwiesen. Das Problem sei also nicht das Fluchen, sondern die Unfähigkeit der Bezugspersonen damit umzugehen. Hier müsse die Therapie ansetzen.
Was uns wieder zurück in die Physiotherapie bringt. „Soziale Unterstützung“ ist hier sicherlich eines der größten Aufgabengebiete der therapeutischen Tätigkeit. Wenn ein Patient beim Training flucht, kann dies sogar erst einmal als positiv bewertet werden, denn offensichtlich fühlt sich die Praxis für ihn oder sie wie eine vertraute Umgebung an. Eine gute therapeutische Allianz bringt nachweislich bessere langfristige Therapieeffekte mit sich. Wieso also nicht den Patienten einmal schimpfen lassen und vielleicht auch mal als TherapeutIn vom professionellen Sprachgebrauch abrücken? Wer eine Aussage mit einem Kraftausdruck unterstreicht wird unter Umständen sogar als glaubwürdiger wahrgenommen (zumindest, wenn es darum geht eine Straftat zu verheimlichen).
Wahrscheinlich liegt dies daran, dass Fluchen Hirnareale aktiviert, die für die emotionale Verarbeitung zuständig sind. Schimpfworte entspringen dem archaischsten Bereich unseres Gehirns und werden von manchen Forschern sogar mit Tierlauten verglichen. Wer im präfrontalen Kortex enthemmt ist, aktiviert vermehrt das limbische System und die Amygdala. Schädigungen im präfrontalen Kortex stehen wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem berühmten Tourette-Syndrom. Übrigens: Die „Schimpfwort-Areale“ werden in der Forschung häufig im Zusammenhang mit chronischen Schmerzsyndromen genannt. Wer also mit der „mächtigsten Droge der Worte“ eine Tiefenwirkung auf eben diese Areale erzielen möchte, sollte vielleicht nicht über den spießigen Frontallappen kommunizieren.
Schlusswort
Ein Aufruf zum Schimpfen soll das hier sicherlich nicht sein, denn davon gibt es schon genug auf dieser Welt. Dies ist eher ein Appell an Empathie und Humor in der Therapie. Wer auch mal ungehemmt über seinen Schmerz fluchen darf, hat schonmal ein Hindernis weniger auf dem Weg zum Therapieziel. Und – verdammt nochmal – darum geht es doch am Ende.
Daniel Bombien / physio.de
SchmerzenKraftTrainingstherapieStudiePsychologie
Gruß an alle Tourettler.
Nice weekend
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Ingo Friedrich schrieb:
Vor ein paar Wochen war ich zu Besuch bei meiner Ärztin. Nach einer längeren Untersuchung wollte sie mir noch abschließend Blut abnehmen und nachdem das nicht wie immer ganz locker ging kam die Überraschung. Die mit Abstand zurückhaltentste und unscheinbartste Frau die ich kenne fluchte plötzlich lautstark "leck mich doch am A.....". Wir schauten uns gegenseitig ganz entsetzt an und ich musste schmunzelnd nachfragen, ob ihre Zündschnur auch momentan ein bissl kurz sei. Am Ende konnten wir beide drüber lachen und unserem Verhältnis hat das alles andere als geschadet.
MfG :)
Bei Patienten habe ich das schon öfter mal. Wenn sie merken, dass ich nicht urteile, zuhöre, da bin, kommen dann die traurigen, wütenden, enttäuschten Seiten an die Oberfläche. Ich finde das schön.
Vielleicht sollte ich doch noch mal den Beruf wechseln :-).
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pt ani schrieb:
@Ingo Friedrich
Bei Patienten habe ich das schon öfter mal. Wenn sie merken, dass ich nicht urteile, zuhöre, da bin, kommen dann die traurigen, wütenden, enttäuschten Seiten an die Oberfläche. Ich finde das schön.
Vielleicht sollte ich doch noch mal den Beruf wechseln :-).
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helmingas schrieb:
Daß beste was ich seit langem lesen durfte.
Gruß an alle Tourettler.
Nice weekend
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