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„Immer in Bewegung im Kopf und in den Beinen“ - Deutscher Präventionspreis erstmalig verliehen
Elf Projekte für Kinder und Jugendliche ausgezeichnet. Initiative „Orthopädie bewegt“: Fast die Hälfte aller Schulkinder leidet unter Haltungsschwächen.
23.06.2004 • 0 Kommentare

Aufgeregte Festtagslaune summte gestern durch das Kongress- und Tagungszentrum am Brandenburger Tor. Zum ersten Mal wurde der Deutsche Präventionspreis verliehen. Fröhliches Jubelgeschrei, als Liz Mohn, Präsidin der Bertelsmann Stiftung, und Marcel Mangen, Geschäftsführer des Pharmaunternehmens Janssen-Cilag, die elf Preisträger bekannt gaben. Die Stiftung und der Medikamentenhersteller spendierten das Preisgeld von zusammen 66.000 Euro. Getragen wird das Projekt vom Bundesgesundheitsministerium, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Bertelsmann Stiftung.

„Projekte zur Ernährung, Bewegung, Entspannung / Stressregulierung und Suchtvorbeugung (Nikotin und Alkohol) für Kinder und Jugendliche bis zu 14 Jahren, ihre Betreuungspersonen und Eltern“, lautet das etwas holperig formulierte diesjährige Preisthema. Bewerben konnten sich Betreuungseinrichtungen, wie Kindertagesstätten und Schulen, aber auch die Anbieter von Präventionsleistungen waren aufgerufen, sich dem Wettbewerb zu stellen. 400 Bewerbungen musste die Jury begutachten, 40 von ihnen wurden schließlich nominiert und 11 durften sich gestern über einen Preis freuen. Gewinner des Deutschen Präventionspreises 2004 ist das „Mo.Ki. – Monheim für Kinder“.

Das Monheimer Projekt hat ein vielfältiges Programm für die fünf Kindertagesstätten der Stadt entwickelt. Bewegung, Sprachförderung und Ernährung sind Angebote, die schon im Kindesalter das Bewusstsein für ein gesundheitsbewusstes Verhalten fördern sollen. Bekommen Kinder Physiotherapie, Logopädie oder Ergotherapie, müssen sie nicht eine Praxis aufsuchen, die Therapie findet im Kindergarten statt. So werden die Eltern entlastet, und die Kinder müssen nicht ihre gewohnte Umgebung verlassen.

„Immer in Bewegung im Kopf und in den Beinen“, mit diesem Konzept konnte die Kita Schuntersiedlung in Braunschweig die Jury überzeugen und einen Preis einheimsen. Schon seit 1991 verbringen die Kinder dort ihre Tage auf einer „Bewegungsbaustelle“. Es kann geschaukelt, gehüpft oder balanciert werden. Die Kita-Gänger können sich als Turner, Akrobaten, Baumeister probieren, sie helfen sich gegenseitig und sind voller Stolz, wenn ihnen etwas Neues gelingt. Die Lust an der Bewegung wird gefördert, die Kinder bestimmen selbst, wann und wie lange sie sich auf der Baustelle aufhalten. Koordination, Gleichgewicht, Ausdauer, Kraft – sensomotorische Abläufe werden angeregt ohne Anweisung oder Übungssituation. Das ganze Kita-Gelände ist mit motivierenden, bewegungsfördernden Geräten und Materialien ausgestattet. Lebenstüchtig durch Bewegung, ein wahrlich ganzheitliches Konzept.

Auch die Grundschule am Hollerbusch im Berliner Bezirk Hellersdorf hat sich der Bewegung verschrieben. Die Pädagogen an der in einer Plattenbausiedlung im östlichen Teil der Stadt gelegenen Schule sehen Gesundheitserziehung als Lehrauftrag. Das Meublement ist betont rückenfreundlich. Zu Beginn eines Schuljahres werden Tische und Stühle für jeden Schüler individuell ausgesucht. Variabilität der Sitzmöbel ist Prinzip. Wer möchte, kann auch einen Sitzball benutzen. Der Unterricht wird regelmäßig für Bewegungspausen unterbrochen. Phantasiereisen und Konzentrationsübungen gehören zum Standardprogramm des schulischen Alltags. Vor und während der Klassenarbeiten gibt es ein gemeinsames Lockerungsprogramm. Hyperaktive Kinder können sich auch während des Unterrichts in einem „Erlebnisraum“ genannten Psychomotorikzimmer unter Anleitung austoben. Den Preis haben sie sich verdient, die Hellersdorfer.

Das Projekt „200 Minuten Sport pro Woche für Grundschüler“ ist in Baden-Württemberg angesiedelt. Inzwischen beteiligen sich bereits 303 Schulen an dem Programm. Beispielhaft wurde gestern die Grundschule an der Bottwar in Steinheim an der Murr vorgestellt. Auch hier fehlt die klassische Schulmöblierung, die Eleven sitzen auf Hockern und haben kleine Regale mit Schreibbrettern. Auf den Fluren gibt es Tobeecken und Hüpfkästen. Bewegung ist pädagogische Richtschnur. Beliebt sind Laufdiktate. Irgendwo im Schulhaus ist ein Text angebracht, den die Kinder suchen müssen. Die im Gedächtnis gespeicherten Sätze bringen sie dann an ihrem Platz im Klassenraum zu Papier.

Vier Beispiele, die fernab von Pisa und aus dem Leim gegangenen Fettbergen die Bildungs- und Lebenschancen der späteren Erwachsenen beträchtlich erhöhen. Wer sich über alle ausgezeichneten Projekte informieren möchte, der drücke einfach hier.

Duplizität der Ereignisse? Auch der Bundesverband der Orthopäden tagte in Berlin und verkündete bei der Vorstellung seiner Kampagne "Orthopädie bewegt“ alarmierende Zahlen. Fast die Hälfte aller Schulkinder leidet heute unter Haltungsschwächen. „Der prozentuale Anteil von Haltungsschäden bei Kindern hat sich in den vergangenen 50 Jahren von 20 auf 40 Prozent verdoppelt“, so Siegfried Götte, Mitbegründer der Initiative. „Unsere Kinder sitzen täglich etwa 8,5 Stunden –in der Schule, beim Essen, bei den Hausaufgaben, vor dem PC und vor dem Fernseher. Darum sollte bereits im Kindergartenalter für ausreichende Bewegung gesorgt werden.“
Aber vielleicht stehen wir ja am Beginn eines goldenen Präventionszeitalters und eines fernen Tages werden die Menschen kopfschüttelnd und mit Grausen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückschauen.

Noch bis 2007 wird der Deutsche Präventionspreis jährlich ausgeschrieben. „Integrierte Projekte zur Gesundheitsförderung und Prävention in der zweiten Lebenshälfte“, so heißt das Preisthema für 2005.


Peter Appuhn
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